-----Original-Nachricht-----
Betreff: Berliner Zeitung: Abwicklung DDR: Diplomaten / Treuhand / Palast der Republik
Datum: 2021-06-13T11:29:07+0200
Von: "Dr. Marianne Linke" marianne.linke@web.de
Liebe Freunde,
in den nicht sehr turbulenten Sonntgsvormittagstunden zwischen "Frühstück und Gänsebraten"
flatterte ein lesenswerter Beitrag aus der Berliner Zeitung auf meinen Bildschirm: siehe Anlage,
Grüße Euch, Marianne
https://www.berliner-zeitung.de/wochenende/der-hamburger-spiegel-schreibt-positiv-ueber-den-osten-und-wir-sagen-danke-li.162776
6.6.2021
Replik auf den Spiegel:
Der Hamburger Spiegel schreibt positiv über den Osten, und wir sagen „Danke!“
Der Soziologe Steffen Mau hat im Spiegel den Osten gelobt. Wir sagen Danke und empfehlen (Ost-)Themen,
die sich die (West-)Medien jetzt vorknöpfen könnten.
Berlin - Der Hamburger Spiegel hat es geschafft! Er hat in der Ausgabe vom 25. Mai 2021 einen
reflektierten Text über den Osten veröffentlicht, in der sich der Soziologe Steffen Mau,
geboren 1968 in Rostock, positiv über die Renitenz des Ostens äußert.
„Im Land der Widerborstigen“ heißt der Essay, in dem Mau scharfkantige Intellektuelle
wie Wolfgang Thierse oder Sahra Wagenknecht und den Protestwillen von Prominenten
wie Jan Josef Liefers würdigt.
Plötzlich steht da ein Text in einem westdeutschen Leitmedium, in dem nichts zu lesen
ist vom Jammerossi oder vom abgehängten Ex-DDR-Bürger.
Frühere Spiegel-Texte und -Titelgeschichten waren dem Osten nicht immer so wohlgesonnen,
wie man den hier veröffentlichten Bildmotiven entnehmen kann. Ist das eine Kehrtwende?
Die Redaktion der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung sagt jedenfalls „Danke!“
und gibt den Kolleginnen und Kollegen vom Spiegel und von anderen westdeutschen
Medien ein paar Vorschläge in die Hand, welche Themen jetzt 30 Jahre nach
der Einheit neu aufgearbeitet werden könnten.
Vielleicht ziehen Süddeutsche Zeitung und F.A.Z. bald nach? Pünktlich zur Wahl in
Sachsen-Anhalt, wo der Frust der Menschen auch (klar, nicht nur!) damit zu tun hat,
wie sie jahrzehntelang in den westdeutschen Leitmedien porträtiert wurden.
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Hier Auszüge:
Die Entwürdigung von Diplomaten: Billiger als Rotkäppchen-Sekt
Die Immobilien der DDR-Botschaften übernahm Deutschland einig Vaterland gerne, auch deren Meißner Porzellan,
sogar die Vorräte an Rotkäppchen-Sekt. Die Menschen im diplomatischen Dienst waren mit dem 3. Oktober 1990
zum verstrahlten Restmüll der Geschichte geworden. „Von denen nehmen wir keinen“, soll Hans-Dietrich Genscher,
liberaler Bundesaußenminister, gesagt und damit aus der Lameng das Urteil über 2172 hochqualifizierte Leute
gesprochen haben. Den Rest gab ihnen der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages, der das Budget für
die Übernahme verweigerte.
Die neue Staatsmacht bildete sich ein, locker auf die Expertise dieser Männer und Frauen verzichten zu können.
Sie kannten sich vor allem in den ehemaligen Bruderstaaten im Osten und Süden aus. Die Netzwerke, Freundschaften,
Insider- und Sprachkenntnisse – all das, was den Wert von Diplomaten ausmacht – wurden belächelt und verschmäht.
Sicherlich gab es Leute, an deren Loyalität zu zweifeln war, aber Einzelfallprüfung gab es nicht.
23 sehr junge Leute durften bleiben. Das war’s.
Als Generalmajor Sigmund Jähn am 2. Oktober 1990 mit der Auflösung der NVA arbeitslos dastand, sorgte sein
westdeutscher Astronautenkollege Ulf Merbold dafür, dass Jähn Berater im russischen Raumfahrtzentrum wurde –
Kulturdolmetscher für die Raumfahrer in Ausbildung. Alle waren begeistert. Kein Diplomat hatte dieses Glück –
nicht in der Entwicklungshilfe, nicht in internationalen Organisationen oder Kulturbüros.
Wie viel Tölpelhaftigkeit gegenüber Russland und anderen Staaten hätten sie vermeiden können!
Der traditionell stolze Stand sank tief. Botschafter jobbten als Taxifahrer, Currywurstbrater oder
Reiseführer. Manche machten in Ex- und Import, handelten mit Bettwäsche, verkauften ihr Wissen an
die Industrie oder verließen das Land. Am schlimmsten blieb die Kränkung.
Warum aber die Schärfe im Westen? Einer der westdeutschen Einheitsgestalter sagte mir vor wenigen
Jahren nach viel gutem Wein: „Wir haben so unser Trauma bewältigt, dass bei uns in der Nachkriegszeit
viele Nazis in Spitzenpositionen saßen.“ Maritta Tkalec
„Doppelt diktaturgeschädigt“: Die Treuhand-Ignoranz des Westens
Ausgerechnet in einer Bar in New York hatte ich den größten Streit über den Osten.
Es war vor sieben Jahren, ich war mit Freundinnen unterwegs, zwei Amerikanerinnen, einer Schwedin,
einer Deutschen. Die Deutsche hatte ihren Mann mitgebracht, Ralf, einen Manager aus Köln,
er kam direkt vom Flughafen in die Bar. Sie sagte zu ihm: Anja kommt übrigens aus dem Osten.
Da kennst du dich doch auch aus, Ralf?
Ralf nickte und begann zu schwärmen, von den Aufbruchsjahren nach der Wende, der besten Zeit
seines Lebens. Ich freute mich, es kam nicht oft vor, dass jemand aus dem tiefen Westen den
Osten kannte und dann noch gut über ihn redete. Ich dachte, Ralf meinte die Nachwendeanarchie
oder hatte tolle Menschen kennengelernt, schätzte deren Direktheit und Lebenslust – wie ich.
Aber Ralf meinte etwas anderes: Er hatte Anfang der 90er-Jahre für die Treuhand DDR-Betriebe
aufgelöst, er schwärmte nicht von den Ost- sondern von den Westdeutschen, mit denen er zusammen
mein Land abgewickelt hatte.
Ich fragte ihn, ob er jemals darüber nachgedacht habe, dass Ostdeutsche diese Zeit völlig
anders erlebt haben, weil sie ihre Jobs verloren, weil alles zusammenbrach.
Ich erzählte ihm von meinem Vater, der Chemieprofessor an der Akademie der Wissenschaften
gewesen war und mit seinen Kollegen jahrelang versucht hatte, sein Institut zu retten,
wie er zum Schluss nur noch mit amerikanischen Wissenschaftlern zusammenarbeitete,
wie er an einem Herzinfarkt starb, mit 59.
Ralf erwiderte, die Ostdeutschen hätten es doch nicht anders gewollt und mein Vater sei
selbst schuld gewesen, eben unfähig, sich neu zu erfinden, doppelt diktaturgeschädigt.
Durch Hitler und die DDR. Er klang so ähnlich wie der ostdeutsche Ostbeauftragte Wanderwitz
am vergangenen Wochenende vor der Wahl in Sachsen-Anhalt.
Ich sagte Ralf, dass mein Vater am Ende des Krieges erst sieben Jahre alt und in der DDR
nie Mitglied der Partei gewesen war, ein leidenschaftlicher Wissenschaftler, wie es sie
in jedem Land gab. Mit Diktatur habe das nichts zu tun.
Und was er sich eigentlich einbilde, ihn einzuschätzen, obwohl er ihm nie begegnet war.
Ich schrie Ralf an. Weil es so laut war in der Bar und ich so wütend war.
Meine Freundinnen sahen erstaunt zu. Sie verstanden nicht, worüber sich die beiden
Deutschen stritten. Sie sagten mir später, so hätten sie mich noch nie erlebt.
Auf dem Weg nach Hause dachte ich, dass es keinen Sinn hat, Westdeutschen den Osten
zu erklären, ich wollte es nie wieder tun. Aber ich kann es nicht lassen.
Ich gebe nicht auf. Anja Reich
Der Palast der Republik: Ein Abriss ohne Verstand
Er gehörte nicht zu meinen Stammlokalen, der 1976 eingeweihte Palast der Republik auf
dem Marx-Engels-Platz, heute wieder Schlossplatz. Zu viele Lampen, zu viele pathetische
Bilder von der Utopie des Lebens im Kommunismus, in dem keiner mehr Bedürfnisse haben würde,
weil alle Bedürfnisse befriedigt seien.
Aber es gab da gute Rockkonzerte, sogar Udo Lindenberg durfte singen.
Und eine Bowlingbahn, gutes Essen in den Restaurants und auf den roten Ledersofas im
Foyer durfte sich die Jugend fläzen, ohne von Ordnungswächtern ermahnt zu werden.
Die Leute hatten Spaß im DDR-Volks-Palast, den das Volk, der große Lümmel,
„Erichs Lampenladen“ nannte.
Die Rache der Geschichte wollte es, dass die neue Berliner Republik das Haus nicht
mehr wollte, es symbolträchtig für das von Ulbricht gesprengte Stadtschloss der
Hohenzollern durch das Museum Humboldt-Forum ersetzte.
2007 begann der Abriss, 2013 der Schloss-Neubau.
Unzählige Demonstranten, auch aus dem Westen, wandten sich gegen den vom Bundestag
beschlossenen Abriss. Vergebens.
Kein Gedanke an Sanierung und Einbeziehung in einen Neubau für das Humboldt-Forum.
5000 Tonnen Spritzasbest wurden zum Argument.
Im Westberliner ICC wurde nicht weniger Giftstoff verbaut. Der Koloss steht heute noch.
Die Kunstwerke aus dem Volkshaus Ost landeten im DHM-Depot, das Inventar auf dem Trödel.
Der Begriff „Denkmalsturz“ machte die Runde durch die Welt, als politisch-religiöser
Ikonoklasmus. Vor allem Künstler waren wütend, übernahmen dann auch die „Letzte Ölung“.
Auf dem Dach ragten die weithin sichtbaren Lettern ZWEIFEL, und die mächtige Bauwanne
des skelettierten Palastes wurde mit Wasser der Spree geflutet.
In Paddelbooten nahmen wir Abschied vom Haus.
Beschämenderweise war das eine spektakuläre Gaudi.
Angesichts des Disney-Schlosses, dessen brutalistische Ostfassade viel hässlicher ist als die des
geschleiften Palastes, kommt mir Kafka, der Sprachmeister des Vertrackten und Absurden, in den Sinn,
sein Spruch: „Das eigentlich Charakteristische dieser Welt ist ihre Vergänglichkeit.“ Ingeborg Ruthe
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